Die Ratte, die Nein zu Heroin sagt

Bruce Alexander und das Rattenparadies

1970 untersuchte der kanadische Physiologe Bruce Alexander, wie Ratten reagieren, wenn sie zwei unterschiedliche Wasserquellen angeboten bekommen:

Nach und nach gewöhnte sich die Ratte an Heroin, bis sie ausschließlich das Heroinwasser trank und an einer Überdosis starb. Gibt man einem Tier ein starkes Genussmittel, wie Heroin, wird es stets eine Sucht entwickeln.

Der Fall scheint simpel und einfach nachvollziehbar zu sein. Und wir kennen ähnliches Verhalten aus unserem eigenen Leben, z.B. wenn der Vorratsschrank voller Chips-Tüten ist.

Doch Bruce Alexander forschte weiter. In seinem ursprünglichen Experiment waren die Ratten stets alleine in einem leeren Käfig. Was sonst sollte eine einsame Ratte machen, als Heroin zu nehmen? Er ändert somit sein Experiment und kreierte ein Rattenparadies. Diesmal waren 20 Ratten in einem großen Ratten-Freizeitpark. Sie konnten mit Hamsterrädern, Bällen, Seilen usw. spielen und vor allem auch mit dem anderen Geschlecht.

Erneut hatten sie die Wahl zwischen normalem Wasser und Heroinwasser. Doch diesmal zeigte sich ein ganz anderes Ergebnis. Die Ratten hatten keine Lust mehr Heroin zu nehmen. Ihr Leben war bereits so interessant, dass es keinen Grund gab heroinsüchtig zu werden.

Das Gegenteil von Sucht

Der Autor Johann Hari schließt daraus: Das Gegenteil von Sucht ist Verbindung mit anderen Menschen. Damit lässt sich auch erklären, warum Menschen nach einem schweren Unfall nie drogensüchtig werden. Im Krankenhaus bekommen sie zahlreiche Drogen und üblicherweise müsste man annehmen, dass diese Drogen sehr süchtig machend seien. Doch nach dem Krankenhaus kehrt man zurück nach Hause, zum üblichen Umfeld und hat keinen Bedarf mehr an weiteren Drogen.

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Die Schlussfolgerung von Johann Hari ist "Das Gegenteil von Sucht ist Verbindung mit anderen Menschen." Sicherlich beinhaltet dieser Satz viel Wahrheit. Doch waren es lediglich die Gesellschaft anderer Ratten, die Ratten von der Heroinsucht abgehalten hat?

Was ist Sucht, was ist Verbindung?

Ich möchte stattdessen das Wort Sucht und Verbindung erweitern.

In dem Experiment ging es um Heroinsucht. Die Ratten waren allein im Käfig und fühlten sich deprimiert und zwecklos, entsprechend tranken sie Heroin. Doch es gibt zahlreiche Arten von Sucht. Nicht nur Drogen machen süchtig, genauso können folgende Dinge süchtig machen, bzw. uns eine Erleichterung bei unangenehmen Gefühlen geben:

Der letzte Punkt wirkt etwas extrem. Was ich mit Freunde meine, ist ein exzessives Bedürfnis, ständig in Gesellschaft von anderen Menschen zu sein. Blaise Pascal sagte dazu: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen."

Ablenkung als Sucht

Alle diese Punkte lassen sich unter einem Begriff zusammenfassen: Ablenkung. Wir empfinden einen unangenehmen Impuls, z.B. Langeweile oder eine Pflicht, wie z.B. Lernen und greifen dann sofort zu etwas Angenehmen, z.B. der TikTok Feed oder eine Packung Gummibärchen. Schon fühlen wir uns kurzfristig besser.

Und wenn wir ständig Freunde treffen, dann müssen wir gar nicht mehr an irgendwelche Pflichten oder langfristige Projekte denken. Wir genießen einfach den Spaß, den uns die Ablenkung bereitet.

Der Lebenszweck einer Ratte war damit erfüllt, dass sie in Gesellschaft anderer Ratten war. Ratten sind Rudeltiere uns sie benötigen ihr Pack, um als Ratte richtig funktionieren zu können.

Wir Menschen brauchen natürlich auch Verbindungen, enge Freunde und Partner, denen wir vertrauen können. Doch wir sind mehr als Ratten. Wir sind gleichzeitig auch Wissensarbeiter, die in der Lage sein müssen, zu lernen, neuen Wissen anzueignen und damit Neues zu erstellen, das anderen Menschen behilflich ist.

Lebensweck oder Ablenkung

Wir müssen somit diesen Lebenszweck finden. Wir müssen etwas finden, das uns mit so viel Lebensenergie füllt, wie das Rattenpack für die einzelne Ratte. Wir müssen einen Sinn finden, der uns wie ein Kompass führt und uns die Richtung unseres Lebens weist. Unsere Mission, unsere Berufung.

Ich spreche hier nicht (ausschließlich) von einem großen, metaphysischen Lebenssinn, den man nach tausenden Stunden Meditation findet. Ich will viel pragmatischer sagen, dass wir eine Aufgabe benötigen, die uns mit Leben füllt. Dies kann ein kleines Projekt sein, das nach einigen Tagen abgeschlossen ist und wir uns dann die nächste Aufgabe suchen. Egal was, aber wir brauchen etwas.

Ich rede hier auch gar nicht von großes Zielen, wie z.B. Millionär werden. Stattdessen geht es mir um etwas, das unsem täglichen Leben Bedeutung gibt.

Wenn wir keinen Zweck in unserem täglichen Leben haben, werden wir, wie die einsame Ratte, zur nächstbesten Ablenkung greifen.

Handysucht ist ein großes Problem, an dem viele Menschen, insbesondere Jugendliche leiden. Die Lösung ist jedoch kaum das Handy weniger zu benutzen. Das wäre so, als wenn wir der Ratte etwas weniger Heroin geben. Sie wird so oder so süchtig.

Eine Alternative zur Sucht

Stattdessen müssen wir eine starke Alternative zur Sucht finden. Anstatt die Handyzeit von 5 Stunden auf 4 Stunden zu reduzieren, sollten wir etwas finden, das uns so viel Erfüllung gibt und unseren Tag mit Lebensfreude füllt, sodass wir gar nicht daran denken, uns mit sinnlosem Zeug abzulenken. Wenn wir diesen Lebenszweck gefunden haben, können wir unser Leben genießen, wie die Ratte im Rattenparadies, ohne ständig von den vielen Ablenkungen hin- und hergerissen zu werden.

Um auf die Schlussfolgerung von Johann Hari zurückzukommen "Das Gegenteil von Sucht ist Verbindung mit anderen Menschen." Ich möchte eher, bzw. zusätzlich, vorschlagen:

Das Gegenteil von Ablenkung ist ein tiefer Lebenssinn. Wenn man diesen nicht gefunden hat, wird man stets Ablenkung suchen.